Durch die von Gletschern geformte Landschaft zu fahren; entlang der weidenden Kühe, der Felder, Wälder und immer wieder das Glitzern der Seen zu sehen; fühlte sich für Bobby schon vor der Ankunft des Ziels wie die reinste Entspannung an.
Geschickt, wenn auch einen Ticken zu schnell für ihren Geschmack, lenkte ihr Bruder Anton sein Auto quer durch die Uckermark.
“Dir ist schon klar, dass du hier in der Gegend ohne Auto aufgeschmissen bist, oder?”, fragte Anton sie zum gefühlt tausendsten Mal, so dass Bobby mit einem Augenrollen antwortete: “Dir ist schon klar, dass ich zum nächsten Ort nur dreißig Minuten Fußweg habe, also mit dem Fahrrad noch schneller da bin?”. “Ja, aber haben die in dem Dorf nicht nur so einen Tante Emma Laden? Mit überteuerten Produkten und kurzen Öffnungszeiten, wegen Mittagsruhe und so?”. “Ich kann sonst auch mit der Bahn nach Prenzlau und so”, erwiderte Bobby gereizt. Anton warf ihr über seine schicke Pilotensonnenbrille einen verständnislosen Blick zu und sagte: “Fährt die nicht nur alle drei Stunden?”. Bobby zuckte mit den Schultern und murmelte leise: “Alle zwei, Blödmann.”
Dann öffnete sie das Beifahrerfenster und atmete die Luft des Spätsommers tief ein. Lächelnd streckte sie ihr Gesicht der aufgehenden September-Sonne zu. Sie entschloss sich, dass diesen Tag ihr niemand mies machen würde.
Ihr erster und einziger Besuch ihres neuen Zuhauses war bereits drei Monate her. Bobbys Maklerin hatte ihr Fotos des Anwesens vorgelegt und Bobby war sich sicher, nie einen schöneren Ort gesehen zu haben. Eine Woche später saß sie voller Vorfreude mit ihrer Schwester Helen im Auto. Helen, als studierte Architektin, war so lieb, das Haus bereits vor ihrem gemeinsamen Besuch auf etwaige Schäden zu untersuchen. Seit zwei Jahren arbeitete Helen beim Denkmalschutz und natürlich tat sie Bobby, die selbst gar keine Ahnung von Architektur hatte, nur allzu gerne den Gefallen.
Doch an diesem Tag schüttete es wie aus Kübeln.
“Dieser Sommer ist gar kein echter Sommer.”, murrte Helen, während sie mit ihren langen Klavierspielerhänden den Hebel neben dem Autolenkrad betätigte, damit die Scheibenwischer den unaufhörlichen Regen etwas schneller fort wuschen. “Ach”, antwortete Bobby, “mich stört das überhaupt nicht. Nach den letzten heißen Sommern in unserer Dachwohnung kommt mir dieser sehr gelegen.” Tatsächlich hatte Bobby ihre Lust auf Sommer über das letzte Jahrzehnt eingebüßt. Ihrer Meinung nach war die Sommerzeit ohne Sommerferien eh nicht dasselbe.
Das kleine, rote Auto bog in eine Straße ein, an dessen Ecke auf einem Holzschild in blauer Schrift Gutshof Bachenbau zu lesen war. Sie folgten der Allee und sahen am Ende das Gebäude. An den beigefarbenen Steinwänden lief der Regen hinab und am Boden sammelten sich die Pfützen. Auf der rechten Seite des Vorhofes waren hinter den Bäumen die alte Scheune und Ställe zu erahnen, die Bobby bereits von den Fotos kannte. Auf der anderen Seite, ein wenig abschüssig, lag weit und offen der dunkelgraue See. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott!”, flüsterte Bobby, völlig überwältigt. Genau hier könnte ihr neues Leben beginnen.
Für einen Moment blieben die beiden noch im Auto sitzen und starrten aus den Fenstern. Der Regen tat weder der Schönheit der Natur, noch des Gutshauses einen Abbruch. Obwohl der Begriff “Haus” nicht der richtige Ausdruck ist, dachte Bobby, denn der Gutshof ähnelt eher einem Schlösschen.
Das Haupthaus umfasste drei Etagen, wobei die oberste, unter den grünen Dachziegeln, nicht genutzt wurde und nur ganz kleine Fenster hatte. Helen hatte ihr auf der Fahrt erzählt, dass unter dem Dach das Gesindel damals lebte und die bekamen halt nur kleine Fenster, Fledermausgauben genannt. Vom Hauptgebäude führten noch rechts und links Seitenflügel mit zwei Etagen und jeweils drei Fenstern pro Etagenfront ab.
Der Gutshof war groß, keine Frage. Aber nicht so groß, dass er unpersönlich oder gar erschlagend wirkte. Eher, als würde das Gebäude genau hier her gehören. Umgeben von Wiese und Sträuchern, eingebettet zwischen Bäumen und See.
Die hölzernen Fensterläden, in dunklen Grüntönen, lockerten die sonst vielleicht strenge Fassade auf.
Die grüne Flügeltür öffnete sich und die Maklerin und winkte ihnen enthusiastisch zu. Die blonden Haare perfekt frisiert, im hübschen Kostüm und mit quietsch gelben Gummistiefeln an den Füßen. Bobby und Helen mussten bei diesem Anblick einfach lachen.
Die nächsten Stunden führte die Maklerin die beiden Schwestern durch das Gebäude.
Die Innenausstattung selbst war kitschig und gemütlich eingerichtet. Die Räume erinnerten Bobby an die englischen Landhäuser aus den Rosamunde Pilcher Filmen der neunziger Jahren, für die sie mehr oder weniger heimlich, schwärmte. Große, blumige Gemälde hingen an den Wänden. Schwere, pastellfarbene Vorhänge an den Fenstern. Ein urgemütlicher Speiseraum beherbergte eine lange Tafel, statt einzelner Tische. Das dunkle Holz des Tisches stand in einem starken Kontrast zu den cremefarbenen Wänden, fand sich aber an den Deckenbalken wieder. So wirkte das große Zimmer viel familiärer. Bobby seufzte zufrieden. “Stell dir nur vor, Helen, wenn wir hier alle zusammen Weihnachten feiern würden! Endlich mal mehr als genügend Platz für uns alle, an einem einzigen Tisch”, sagte Bobby und strich dabei verträumt über die Maserung des Holzes. Helen nickte enthusiastisch: “Das wäre wirklich fantastisch. Und wenn es hier draußen schneit, bleibt der Schnee garantiert auch länger liegen als in Berlin. Vielleicht könnten wir dann sogar auf dem See Schlittschuh laufen!” “Na dann zeig ich euch gleich mal die Küche, in der ihr euer Weihnachtsmenü vorbereiten könnt”, fügte die Maklerin mit einem Augenzwinkern hinzu und öffnete die nächste Tür.
Eine super moderne Küche mit Geräten, von denen Bobby überhaupt keine Ahnung hatte, lag gleich nebenan. Als sie einen der Schränke öffnete, entdeckte sie sogar eine Zuckerwattenmaschiene. “Sieh mal an,“ sagte Helen, die sich neben Bobby schob, “wenn die nicht den Traum meines Lieblingsneffens erfüllt.” Bobby musste grinsen. Tatsächlich aß ihr fünfjähriger Sohn Jonas keine andere Süßigkeit lieber.
So erkundigten die drei Raum für Raum. Das Kaminzimmer beeindruckte Bobby besonders. Vor dem eingebauten Steinkamin standen auf einem großen Teppich ein kleiner Tisch, zwei gemütliche Sofa mit farblich abgestimmten Kissen und Kuscheldecken. Das gesamte Interieur lud zum sofortigen Ausruhen ein. Freie Balken an den Decken ließen den hohen Raum etwas kleiner und gemütlicher wirken. Und natürlich gab es Bücherregale, welche allerdings noch leer standen. Bobby wusste sofort, dass sie allein mit diesem einen Zimmer glücklich werden könnte. Die beiden Fenster zeigten nach hinten raus, so dass sie einen Blick auf die gepflegte Rasenfläche mit dem dahinterliegenden Wald freigaben. Und wenn man sich leicht schräg stellte, hatte man sogar noch den Steg am See im Blick.
Die Maklerin nahm sich wirklich jede Menge Zeit, führte Bobby und Helen, die ja bereits alle Räume kannte, weiter und weiter, bis ihnen die Köpfe brummten. Vier Schlafzimmer mit Badezimmern zum Vermieten standen im linken Flügel bereit. Die Zimmer des rechten Flügel waren zu einer Einliegerwohnung im Maisonettestil zusammengefasst und unmöbliert.
Hier könnte Bobby mit Jonas einziehen und hätte noch immer mehr als genügend Platz.
“Es ist einfach so perfekt. Wie aus einem Hochglanzmagazin. Wie kam es dazu, dass die Vorbesitzer das alles hier aufgaben?”, fragte Bobby, während die drei sich ihre Regenjacken anzogen, um nach draußen zu gehen. “Nun ja…,“ antwortete die Maklerin und wirkte leicht verlegen, “das ist eine unschöne Geschichte. Vor etwas mehr als einem Jahr vermittelte ich den Gutshof Bachenbau an ein Paar Ende zwanzig. Sie kamen beide aus wohlhabenden Familien, hatten sich während ihrer Studienzeit kennen gelernt und wollten sich hier ihren Traum erfüllen. Vor eineinhalb Jahren sah es hier noch ganz anders aus. Also sehr altmodisch und verstaubt. Aber wie es so oft ist, so ein Hausbau, oder hier der Umbau, bringt auch eine Menge Stress mit sich und naja. Also eigentlich, unter uns, hatten sie Gärtnermeister und Innenarchitekten und weitere Menschen hiermit beauftragt. Sie selbst hatten gar keinen so großen Anteil am Ergebnis. Wie auch immer, die beiden trennten sich. Jetzt wollen sie alles so schnell wie möglich loswerden.”
Für einen Moment hatte Bobby den Eindruck, als würde die Maklerin gerne noch mehr erzählen, sich dann jedoch umbesinnen. Wahrscheinlich war der Rest einfach zu privat und sie hatte schon zu viel verraten. Die Haustür wurde geöffnet und es ging wieder raus in den Regen.
Der Stall stand leer, könnte aber Tiere beherbergen. In der einen Scheune standen Arbeitsgeräte wie ein Traktor und unterschiedliche Anhänger. Die andere Hälfte der Scheune war für Heu, stand aber auch leer. Damals wurden wohl hauptsächlich Schafe gehalten, aber auch Pferde, informierte die Maklerin.
Dann liefen sie um das Haus herum, über den gepflegten Rasen, an einer Terrasse vorbei zum See.
Nicht nur das ein Grundstück mit See bereits ein absolutes Highlight darstellte, als Krönung befand sich dort auch noch eine Sauna mit einer abgeschirmten Außendusche, die Helen in absolute Verzückung geraten ließ.
Abschließend betraten die drei Frauen den Steg und sahen auf das sich vom Regen kräuselnde Wasser. Es roch überall so wohltuend. Im Haus nach frischem Holz durch die Renovierungen, draußen nach Erde, Regen und See. Nach einem Moment der Ruhe unterbrach die Maklerin das Schweigen: “Und, Frau Bach? Können Sie sich vorstellen die vorhandene Frühstückspension hier zu eröffnen? Es ist ja wirklich alles bereit, selbst die Konzessionen zum Ausschenken sind inbegriffen, ein Anlegerrecht hier am Steg ebenfalls, den Segen des Sicherheitsdienstes wegen Notausgängen und Fluchtwegen etc. liegen auch vor. Das einzige, was diesem Haus noch fehlt, ist eine passende Gastgeberin.” Bobby wandte den Blick vom See ab und sah wieder zum Haus hinauf. Sie war völlig überwältigt und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Es kam ihr alles wie ein zu schöner Traum vor. So unwirklich. Vor noch einem halben Jahr konnte sie nicht mal die Miete in Berlin für sich und ihren Sohn alleine stemmen, musste jeden Euro wenden und nun stand sie hier und könnte einfach dieses Stück Land mit allem drum und dran kaufen. Sie wusste, es würde ihr nicht einmal weh tun. Denn die Summe, die Bobby vor einem halben Jahr in der Lotterie gewann, war ihr einfach zu groß, um sie wirklich begreifen zu können. Bei dem Gedanken an all das Geld, das einfach auf ihrem Konto lag und welches sie nun für dieses Haus ausgeben könnte, erbrach sie sich vor Aufregung in den See.
Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Zum zweiten Mal in ihrem Leben fuhr Bobby ihrem neuen Zuhause entgegen. Dieses Mal strahlte die Fassade des Gutshofes in warmen, beigen Farben. Als sie ankamen, stand bereits der Umzugswagen vor dem Haus und die Männer von der Umzugsfirma schleppten Kisten und Möbel durch die geöffnete Flügeltür ins Haus. Neben dem Eingang stand an die Wand gelehnt, mit verschränkten Armen, ein älterer, bulliger Typ. Er trug auf dem Kopf eine braune Schiebermütze, dazu ein kariertes Hemd mit Weste, feste Schuhe an den Füßen. Missmutig schaute er dem ankommenden Wagen entgegen.
“Wer ist denn dieser Miesepeter?”, fragte Anton Bobby. “Ich schätze,“ antwortete diese, “dass das mein Angestellter ist. Herr Knudsen. Er hatte den Auftrag, die Tür fürs Umzugsunternehmen zu öffnen.”
Zu dem Kaufvertrag des Gutshof Bachenbau gehörten zu den Weiden, dem kleinen Forst und der Anlegestelle am See Bachen auch noch das Pächterhaus und ein Arbeitsvertrag für Herrn Knudsen. Der lebte wohl schon in dritter Generation in dem kleinen Steinhaus am Wald und war sowas wie ein Hausmeister für alles. Herrn Knudsen zu übernehmen war Pflicht gewesen, als auch ihm und seiner Frau Wohnrecht bis zu ihren jeweiligen Todestagen zu gewähren. Bobby freute sich im Grunde jemanden, der Haus und Hof kannte, in der Nähe zu haben.
Doch bei dem Blick, der ihr und Anton zugeworfen wurde, war sie sich gar nicht mehr so sicher.
Kaum dass das Auto auf dem Vorplatz zum Stehen kam, sprang Bobby auch schon vorfreudig aus dem Wagen. “EY!”, polterte da der grimmige Kerl ihnen zu. Einer der Umzugsmänner ließ vor Schreck beinahe die Kiste in den Armen fallen und auch Bobby blieb für eine Sekunde wie erstarrt stehen. “Der Parkplatz ist um die Ecke, vor dem Haus wird nur in Notfällen geparkt, klar?” Kraftvoll fuhr sein Arm nach vorne und er zeigte mit der Faust auf einen asphaltierten Seitenweg. Anton hob entschuldigend die Hände, stieg wieder ein und fuhr seinen Wagen um die Ecke Richtung Stallungen.
Der Mann lehnt sich wieder an die Wand. Sein Gesicht gerötet und die Mundwinkel noch einen Ticken weiter unten als zuvor.
Puh, dachte Bobby, das kann ja heiter werden. Der Typ erinnerte sie an ihren Grundschulsportlehrer. Mit derselben Tonlage hatte dieser damals alle Kinder auf dem Pausenhof im Griff. Das war so einer gewesen, der im Unterricht mit Kreide und Schlüssel warf. Na hoffentlich warf dieser Kerl hier nicht mit Mistgabeln! Sie nahm einmal tief Luft, setzte ein gewinnendes Lächeln auf und lief zielstrebig auf den Eingang zu. Vor dem mürrischen Mann blieb sie stehen, strahlte ihm ins Gesicht und streckte ihm die Hand hin. “Sie müssen Herr Knudsen sein. Ich freue mich, Sie endlich kennen zu lernen! Mein Name ist Bach, aber Sie und Ihre Frau können mich auch einfach Bobby nennen.”
Aus der Kehle des Mannes drang ein Geräusch wie ein Knurren. Nachdem er unangenehm lange auf Bobbys Hand starrte, nahm er sie doch endlich in seine, wobei er etwas fester zudrückte, als es nötig gewesen wäre.
In dem Moment kam Anton dazu, sodass sich der stechende Blick von Bobby abwandte und sie unauffällig ihre Finger ausschütteln konnte.
“Hallo Herr Knudsen!”, begrüßte auch Anton ihn. Wieder nur ein Knurren. Verwirrt blickte Anton zwischen seiner Schwester und dem Mann hin und her. Bobby zuckte mit den Schultern.
Dann räusperte sich der Mann und sagte: “Yep, bin Herr Knudsen. Dann sind Sie also der neue Eigentümer, Robert Bach? Ich dachte Sie hätten ein Kind dabei, statt einer Frau.” Anton lachte: “Nein, nein. Ich bin Anton Bach, Bobbys Bruder. Ich brachte meine Schwester nur her und fahre heute Abend wieder zurück.”
Schon lag der forschende Blick aus graublauen Augen wieder auf Bobby.
“Ähm, ja. Das führt manchmal zu Verwirrungen. Ich heiße eigentlich Robert”, sagte diese. “Und mein Sohn, Jonas, bleibt für eine Woche noch in Berlin, bei Antons und meinen Eltern. Bis ich hier alles eingeräumt habe.”
Herr Knudsens Blick wanderte einmal von Bobbys Kopf bis zu den Füßen und zurück. “Achso”, sagte er dann. Schüttelte den Kopf und brummte etwas wie “Erst die Möchtegern- Hippies und jetzt eine Frau…”, und ging in Richtung Scheune davon.
Bobby und Anton sahen Herrn Knudsen einen Moment noch nach. “Ist der Typ echt?”, fragte Anton schließlich. “Echt skurril, würde ich sagen.”
Breit grinsten sie sich an und traten gemeinsam über die Türschwelle des Bachenbaus ein.

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