4. Kapitel – Der Tanzabend

Seit vier Wochen lebten Bobby und Jonas bereits auf dem traumhaft schönen Gutshof Bachenbau. Jonas besuchte seit zwei Wochen den Kindergarten. Nicht, weil Bobby dringend Zeit für sich allein gebraucht hätte. Auch wenn sie die ruhigen Vormittagsstunden zu nutzen wusste, sondern hauptsächlich, damit Jonas möglichst schnell neue Freunde und Anschluss in der Ortschaft Bachensee fand. 

 Schneller als gedacht löste der Oktober den September ab. Es gab die ersten kalten Nächte, so dass Herr Knudsen ihr die Heizung im Keller einschaltete. Außerdem brachte sich Bobby mithilfe von Youtube-Videos bei, wie man einen Kamin am besten entzündete. Kamine gab es in dem großen Gebäude mehrere und Bobby fand es schrecklich romantisch, abends mit ihrem Sohn vor dem Feuer zu sitzen, Marshmallows zu essen und Astrid Lindgren Bücher vorzulesen. Außerdem roch es so herrlich, wenn das Holz verglühte.

 Die meiste Zeit hielten sie sich in der Einliegerwohnung im rechten Flügel des schlossähnlichen Gutshofes auf. Bobby konnte sich noch immer nicht ganz überwinden, ihre gewonnene Einsamkeit aufzugeben und Gäste in den restlichen Zimmern unterzubringen. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn wieder ihre Eltern sie besuchen würden oder andere Familienmitglieder und Freunde. Aber fremde Personen? 

 Um sich über die Zukunft der Ländereien zu besprechen, die zum Hof gehörten, lud Bobby das Ehepaar Knudsen zu sich ins Gutshaus ein. Theoretisch hätte es gereicht, allein mit Herrn Knudsen alles durchzugehen. Doch da sich ihr Verhältnis, aus für Bobby unbekannten Gründen, in den vier Wochen nicht verbesserte, war es ihr nur recht die schwatzhafte Ehefrau Martha dabei zu haben. Nachdem Bobby mit ihnen die Betriebskosten und etwaige Anstellungen durchsprach, kam sie nicht mehr drum herum, Martha die Hauswirtschaft zu übertragen. “Meine Liebe Bobby, du wirst niemanden finden, der sich besser in dem Haus auskennt als ich. Schließlich führte ich für den Vor-Vorbesitzer seit meiner Hochzeit die Hauswirtschaft.” “Aber war das nicht vor dem Umbau zur Pension? Seit dem hat sich doch bestimmt einiges hier verändert”, warf Bobby ein. Es war nicht so, dass sie Martha nicht mochte. Doch war diese leider schrecklich neugierig und laut. Geradezu aufdringlich. Empörten Blickes wandte sie sich an ihren Mann: “Hast du das gehört?” Ihre ohnehin schmalen Lippen wurden noch schmaler, so dass von dem pinken Lippenstift kaum noch etwas zu sehen war. Zu Bobby sagte sie im beleidigten Ton: “Als ob ich nicht Hauswirtschaftslehre vor unserer Hochzeit gelernt hätte! Da ging es auch um Hotels und ich möchte dir ja nicht zu nahe treten, aber soweit ich weiß, kommst du nicht aus der Hotelbranche, oder?” Touché. Bobby seufzte innerlich auf. Jetzt anzumerken, dass seit Marthas Ausbildung vor bestimmt mehr als dreißig Jahren auch nicht mehr alles so wie damals war, führte sicherlich nicht weiter. Wiederum hatte Bobby an jemanden gedacht, der einfach kommen, putzen und wieder gehen würde. Aber auf keinen Fall wollte sie sich mit Martha anlegen. Ihr Ehemann machte es Bobby bereits schwer genug mit seiner grummeligen, eigentlich schon unhöflichen Art. Der durchbohrte sie auch jetzt wieder mit seinem Blick, als hätte sie seiner Frau ein Messer in den Rücken gerammt. Jonas fand Martha super. Ihrem fünfjährigen Sohn gegenüber hatte Martha definitiv Ersatzoma-Potential. Sollte Bobby selbst einmal krank werden oder dringend einen Babysitter brauchen, würde Martha sicher sofort einspringen. Mit so jemandem sollte sie es sich wohl lieber nicht verscherzen. Also setzte Bobby zum Beschwichtigen an: “So war das gar nicht gemeint. Ich weiß doch, solltest du hier offiziell anfangen, welches Glück ich mit dir hätte. Ich dachte nur, bei all den Verpflichtungen, die du bereits im Dorfkomitee hast. Zu deinem eigenen Haushalt und dann hier diesen großen Kasten noch zu putzen und organisieren.”

“Ach, Herzchen, nein!”, rief Martha ereifernd aus, während Herr Knudsen hustete, was nach einem abfälligen Lachen klang. Ein Blick zu ihm bestätigte Bobbys Befürchtung; er hatte sie durchschaut. Wenigstens sagte er nichts weiter und Martha schien es nicht wahrzunehmen. Sie kam gerade erst so richtig in Fahrt: “Da musst du dir doch keine Sorgen machen. Das hab ich schon immer so gemacht und seitdem unsere Jungen kaum noch zu Hause sind, weiß ich gar nicht, wohin mit meiner ganzen Energie. Früher hab ich die Kinder natürlich selbst zur Schule gefahren und abgeholt. Dann das Fußballtraining von Nils, Lars musste zum Rudern gebracht werden, dazu die Wochenend-Turniere und dann aßen mir die drei Männer die Haare vom Kopf. Was ich da Tag und Nacht in der Küche stand. Da kam mir die Ausbildung auch zugute. So ein Einkauf muss schließlich kalkuliert und geplant werden. Dich zwanzig Stunden die Woche zu unterstützen, ist nichts! Wenn übermorgen die ersten Gäste kommen, wirst du sehen, wie gut es ist mich an Bord zu haben. Ich koche hervorragenden Kaffee und die Brötchen zum Frühstück sind auch Selbstläufer. Die backe ich natürlich selber. Zum Mittagessen und für den Abend müssen sich die armen Gäste leider allein versorgen?” “Eigentlich trinke ich nur Tee”, war alles was Bobby dazu einfiel. 

 Dann realisierte sie das eben Gesagte und fragte misstrauisch: “Martha, von welchen Gästen sprichst du da? Du meinst hoffentlich, dass ihr als Ehepaar in eurem eigenen Haus Besuch bekommt?“ “Was? Ach, das vergaß ich ganz dir zu sagen. Na ist auch nicht weiter schlimm, jetzt sprechen wir darüber. Die Frau Häckel, dessen Enkel du als Gärtner einstellen wirst, die wird doch fünfundsiebzig. Das feiern wir ganz groß. Hast du noch keine Einladung erhalten? Ist ja auch egal. Auf jeden Fall hat sie doch so viel Familie. Die wohnen teilweise gar nicht mehr hier und da war es natürlich schwer, alle unter zu bekommen. Da kam ich auf die grandiose Idee, ihrer Nichte Kathleen mit Mann und zwei erwachsenen Kindern vorzuschlagen, hier Zimmer zu buchen. Die waren total begeistert! Ganz reizende Menschen. Wird doch Zeit, dass hier wieder mehr Leben in die Bude rein kommt. Jetzt wo alles so schick ist.” Zufrieden mit sich, sah Martha sich im großen Speisezimmer um, als wäre sie selbst die Hausherrin. Dann runzelte sie die hohe Stirn unter dem gelbblonden Haar, stand auf und fuhr mit ihrem Finger über einen kleinen Beistelltisch. “Ts, ts, ts. Staub. Am besten fange ich gleich mit dem Putzen an.” Herr Knudsen, wieder als Husten getarnt, lachte hämisch. Bobby war absolut sprachlos.

“Bobby, jetzt mal ehrlich. Freu dich doch, dass Martha dir so hilfreich beisteht”, versuchte Bobbys Mutter sie übers Handy zu beruhigen. Da Martha bereits seit Stunden durch das Haus huschte, imaginäre Flecken von den Fenstern putzte, alles lüftete und jedes Kissen ausschüttelte, war Bobby zum Telefonieren raus gegangen und setzte sich auf den Steg am See. “Mensch Mama, die führt sich auf wie die Inhaberin persönlich. Nur gleichzeitig auch noch als Köchin und Putzfrau.” Ihre Mutter gluckste bei dem Vergleich amüsiert auf: “Ich habe Martha ja nur auf dem Apfel-Schrägstrich Erntedankfest gesehen, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen. Sieh es doch mal so. Jetzt musst du dir keinen Kopf mehr darum machen, ob und wann du Gäste empfangen wirst. Nach den drei Nächten mit dieser Familie kannst du besser einschätzen, wie du zu weiteren Gästen stehst. Und Süße, ist der Sinn Millionärin zu sein, nicht der, sich auch etwas zurück zu lehnen? Aufgaben wie das Putzen und frühe Aufstehen zum Kaffee kochen kannst du gut anderen überlassen. Du besitzt doch so viel Fantasie. Stell dir einfach vor, auf Downton Abbey zu leben und zu den Menschen zu gehören, die das Glück haben, nicht selbst kochen zu müssen. Außerdem war dein sehnlichster Wunsch nach all den schweren, letzten Jahren dich erstmal richtig zu entspannen. Deinen vernachlässigten Hobbies nachzugehen und noch wichtiger, die Zeit mit Jonas zu genießen.” “Ja, ja. Ist gut. Alles ganz tolle, vernünftige Gründe Martha freie Hand zu lassen. Du hast Recht. Aber wenn ich das nächste Mal richtig lästern will und einfach nur Zustimmung brauche, ruf ich lieber Helen an.” “Das ist eine gute Idee, vor allem, da ich gerade auf Arbeit bin und noch einiges zu erledigen habe. Grüß Helen und gib Jonas ein Küsschen von mir. Goodbye, Milady. God save the Queen, und Martha.” Dann legte sie auf. 

Natürlich ließ Bobby es sich nicht nehmen, zwei Tage später die ersten Gäste der Pension selbst zu begrüßen und ihnen ihre Zimmer zu zeigen. Als gebürtige Bachenseer stellten diese keine großen Ansprüche an ihre Gastgeberin. Wollten sie den Großteil ihrer Zeit sowieso mit der ansässigen Familie verbringen. 

 Eine Einladung an Bobby und Jonas war einen Tag vor der riesen Geburtstagfeier auch noch eingetrudelt und Bobby hatte den Verdacht, dass Martha daran nicht ganz unschuldig war. Spätestens als diese anbot, Jonas und Bobby mit dem Auto zur Location mitzunehmen, war sie sich dessen sicher. 

 Zu ihrer Enttäuschung saß Lars nicht mit im Auto. Jedoch würde Bobby sich eher die Zunge abbeißen, als seine Eltern nach ihm zu fragen.

Die Geburtstagsparty fand im neuen und super schicken Gemeindehaus neben der Felsenkirche statt. Es stand auf einer leichten Anhöhe und eine der Längsseiten war komplett verglast, sodass man einen traumhaften Blick auf einen kleinen Park und den dahinter liegenden See hatte. Überall fand sich in der ausladenden Deko die Fünfundsiebzig wieder, das Buffet bog sich unter der Last der Torten und Kuchen. Hinter der Theke arbeitete die Dorfjugend freiwillig als Barkeeper. Die Stimmung war locker. Die vielen Reden und Anekdoten wurden der Geburtstagsdame gewidmet, sodass Bobby einen guten Eindruck vom Leben der Menschen im Ort bekam. Sie fühlte sich vom Programm bestens unterhalten.

 Auch Jonas kam voll und ganz auf seine Kosten. Schnell fand er seine Freunde und Freundinnen aus dem Kindergarten, mit denen er um die Tische rannte und spielte. Niemand schien sich daran zu stören. Hier gehörten die aufgedrehten Kinder einfach dazu.

Je später es wurde, desto feuchtfröhlicher entwickelte sich die Stimmung. Der Sonnenuntergang erleuchtete den Festsaal in einem goldenen Licht, was die Dekoration glänzen und glitzern ließ. Irgendwann wurden die Tische zur Seite geräumt und eine Musikergruppe aus fünf Personen betrat die kleine Bühne. Die junge Frau, die sich vor dem Mikrofon positionierte, war atemberaubend schön. Schon erklang das erste Lied im fünfziger Jahre Stil und die etwas raue Stimme der Sängerin erfüllte den gesamten Saal. Bobby stand am Rand und bestaunte die guten Tänzer auf dem Parkett. Sogar Ehepaar Knudsen schwang das Tanzbein. Zu Bobbys Überraschung auffallend begabt. Niemals hätte sie Herrn Knudsen die lockeren und fließenden Bewegungen zugetraut. Außerdem entdeckte sie Fred, Herrn Sekretär und ihre Briefträgerin. Noch einige weitere Gesichter kamen ihr bekannt vor. Doch Bobby stellte bald fest, dass sie auch nach den vier Wochen noch nicht wirklich viele Menschen kennen gelernt hatte. Sie wusste nicht einmal genau, wer nun wirklich hier wohnte und wer nur zum Feiern zu Besuch war. In Berlin wäre das normal, doch auf dem Land war das irgendwie anders. Sie spürte an den freundlichen, aber auch verhaltenen Blicken, dass sie noch nicht so ganz dazu gehörte. 

Sie sah nach Jonas, der längst eingeschlafen war. Eingemummelt in ihrem Mantel lag er auf zwei zusammengeschobenen Stühlen. Einen Blick durch den Raum zeigte ihr, dass der Schlaf noch weitere Kinder übermannt hatte. Manche hingen auf dem Schoß ihrer Eltern und noch vier weitere lagen ebenfalls auf Stühlen und Bänken gebettet. Ohne gute Freunde zum Quatschen spürte auch Bobby langsam die Müdigkeit in sich hochsteigen. Außerdem war die Luft verbraucht und heiß. Obwohl sie nur ein dünnes, schwarzes Satinkleid trug, spürte sie einen Schweißtropfen vom Nacken über den Rücken hinab laufen. Also holte sie sich ein Glas Weißwein und gab der noch immer tanzenden Martha ein Handzeichen, dass sie an die frische Luft gehen wollte.

 Nach der Hitze im Saal fühlte sich die Nachtluft kälter an, als sie tatsächlich war. Die Musik drang bis nach draußen und sorgte so auch hier für eine gute Stimmung. Auf dem Parkplatz stand ein Pärchen und knutschte hemmungslos unter einer Laterne. In einer Ecke standen einige Raucher unter einem Heizpilz und unterhielten sich laut lachend. Kurz überlegte Bobby, sich einfach zu den Rauchern zu gesellen. Dann entschied sie sich jedoch dagegen und lief um das Gebäude herum. Sie erinnerte sich daran, tagsüber vom Saal aus eine Bank unter einer Birke gesehen zu haben. Von dort aus hatte sie sicher einen guten Blick auf die Feiernden. Sie bog um die zweite Ecke und stoppte abrupt, als sie die gefundene Bank bereits besetzt sah. Bevor sie den Rücktritt antreten konnte, wurde sie von einer dunklen, ihr bekannten Stimme angesprochen: “Hey Bobby, wie schön dich zu sehen.” Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. “Hey Lars, ich wusste gar nicht, dass du heute auch da bist.” Er klopfte neben sich auf die Bank und sagte: “Ach, ich schaue nur mal eben vorbei. Hatte noch länger zu tun.” Bobby ließ sich neben ihm nieder, sprang aber gleich wieder auf, als sich das kalte Holz durch den dünnen Stoff ihres Kleides drang. So verlockend es war, sich neben ihn zu setzen, eine Blasenentzündung konnte Bobby wirklich nicht gebrauchen. “Soll ich dir deine Jacke holen? Du musst mir nur sagen wo ich sie finde”, bot er ihr sofort an. “Nee, lass mal. Jonas benutzt meinen Mantel als Bettdecke. Ich glaube nicht, dass ich ihn heute nochmal richtig wach bekomme.” “Dann warte kurz”, sagte Lars und verschwand im Dunkeln, um kurz darauf mit einem dicken Norwegerpulli zurück zu kommen. “Dein Kleid steht dir wirklich fantastisch, aber vielleicht magst du hier draußen den Pulli tragen? Hatte ich noch in meinem Auto zu liegen.” Dankbar nahm Bobby ihn an und zog ihn über, wobei sie sich über das Kompliment zu ihrem Kleid freute. Durch den Größenunterschied reichte ihr der dicke Pullover bis knapp unter den Po, sodass Bobby sich auch setzen konnte.

“Warst du gar nicht drinnen? Zumindest habe ich dich nicht gesehen, aber bei den ganzen Menschen wohl kein Wunder.” Für einen Moment biss sich Lars auf die Lippen: “Doch, ich war kurz drin. Ich wollte wenigstens Gertrud persönlich gratulieren. Aber war nicht so meine Stimmung.” “Achso. Und wieso sitzt du dann hier draußen und schaust den Leuten zu?” “Wieso bist du denn hier?”, fragte er, statt zu antworten. Da Bobby ihn zu keiner Antwort drängen wollte, zuckte sie mit den Schultern und beantwortete seine Gegenfrage: “Ab einem gewissen Punkt fühlte ich mich einfach fremd. Ich kenne bisher kaum jemanden. Außerdem ist die Luft da drin sagenhaft schlecht. Zum Glück hört man bis hierher die Musik. Die gefällt mir unglaublich gut! Die Sängerin ist fantastisch.” “Ja, ist sie wirklich”, war alles was Lars sagte. Dann schwieg er gedankenverloren. So saßen sie im Dunkeln nebeneinander vor den riesigen Fenstern und beobachteten das vergnügte Treiben der Feiernden.

Bobby nippte an ihrem Glas. Klug wurde sie aus ihm nicht. Erst machte er ihr ein Kompliment, holte ihr sogar seinen Pullover und dann wirkte er wieder abweisend. Oder einfach nur abwesend? “Wenn du lieber alleine sein möchtest, kann ich auch wieder rein gehen. Vielleicht bestelle ich für Jonas und mich einfach ein Taxi zurück. Wir kamen mit deinen Eltern, aber so wie die beiden über die Tanzfläche schweben, gehen sie wohl noch lange nicht.”

 Skeptisch sah Lars sie an: “Du glaubst doch nicht wirklich, dass du hier draußen und dann um diese Zeit ein Taxi bekommst. Aber das ist kein Problem. Ich fahre dich. Hole du eure Sachen, ich tausche mit meinen Eltern einfach das Auto wegen dem Kindersitz und fahre euch.” “Lars, das ist total aufmerksam von dir, aber ich wollte dir jetzt nicht den Abend verkürzen.” “Quatsch, ich hab gratuliert und das war alles was ich hier wollte.” Gemeinsam liefen sie zurück in den Saal, der Bobby nach der kühlen Luft nur noch stickiger vorkam. Sie nahm ihre Handtasche und Jonas‘ Jacke. Im Gehen nickte sie den umherstehenden Leuten verabschiedend zu. Gerade überlegte Bobby, wie sie Jonas am besten hochnehmen sollte, ohne dass er ihr in ihrem Mantel vom Arm rutschen würde, als Lars schon neben ihr auftauchte und ihn sich vorsichtig vor die Brust legte. Mit seiner Größe und sicher auch mehr Muskelmasse in den Armen, sah es ganz leicht aus. Gemeinsam verließen sie den Saal und irgendwie sahen die Leute, die sie gerade noch zurück gegrüßt hatten, nicht mehr ganz so wohlgesonnen aus. Oder bildete Bobby sich das ein? Irritiert folgte sie Lars zum Wagen und gemeinsam fuhren sie heim.

Bis in den ersten Stock ins Kinderzimmer trug Lars das Kind. Bobby zog Jonas nur noch die Schuhe aus, deckte ihn ordentlich zu und drückte ihm einen Kuss auf das wuschelige Haar. Morgen würde er sich dafür doppelt so lange die Zähne putzen müssen, sagte sie sich selbst, um kein schlechtes Gewissen zu haben, ihn bekleidet und ungewaschen ins Bett gesteckt zu haben. 

 Vor der Zimmertür stand Lars und wartete auf sie. “Magst du noch ein Glas Wein oder Tee, bevor du gehst?”, bot Bobby ihm an. “Gerne einen Wein.” 

Während sie in ihrer eigenen kleinen Küche nach zwei passenden Gläsern suchte, entzündete Lars im Kamin ein Feuer. Auf ihrem Handy wählte sie eine Playlist mit ruhiger Gitarrenmusik, die über eine Musikbox im Wohnzimmer abgespielt wurde. Dann betrat Bobby mit zwei Gläsern das Wohnzimmer und reichte Lars das eine. Er Griff nach seinem Glas und stockte: “Moment, sind das etwa Playmobil Sammelgläser?”, fragte Lars lachend und begutachtete die Playmobil Meerjungfrau auf seinem Glas. “Ja, die sind aus dem ersten Urlaub, den ich allein mit Jonas machte. Er durfte sich aussuchen wohin und er wollte unbedingt in diesen Playmobil Vergnügungspark in Bayern. Da brauchten wir natürlich noch ein passendes Andenken. Danke nochmal, fürs Fahren und dass du ihn auch noch den ganzen Weg getragen hast” “Jederzeit wieder, das tue ich wirklich gerne.”

Daraufhin stießen beide klirrend mit den Gläsern an. Das Feuer im Kamin knackte leise und das warme Licht spielte seine Schattenspiele an der Wand. Lars sah sich neugierig um. Hektisch überlegte Bobby, ob vielleicht irgendwo noch eine olle Unterhose von ihr oder sonst was peinliches herum liegen könnte. Bobby war schon immer etwas chaotisch gewesen und manchmal lagen die Dinge einfach nicht da, wo sie hingehören. Genau jetzt wäre so ein Moment, in dem ihr was peinliches passierte.

 Doch sie konnte nichts entdecken. Als sie ihren Kopf wieder zu Lars drehte, sah er bereits zu ihr und lächelte sie entspannt an. “Deine Eltern sind fantastische Tänzer.” “Ja, sowas sagtest du bereits.” “Es ist auch mehr als nur eine Erwähnung wert. So würde ich auch gerne tanzen können.” “Meine Eltern lernten sich in der Tanzschule kennen. Damals war sie fünfzehn und er zweiundzwanzig.” “Nicht dein Ernst! Heute würde man deinen Vater bei diesem Altersunterschied anzeigen”, empörte sich Bobby. Amüsiert und mit einem für Bobby schwer einzuordnenden Blick, grinste er sie über sein Weinglas hinweg an. Flirtete er etwa mit ihr? Plötzlich wurde ihr ziemlich warm. Oder es lag einfach an der Kombination aus Wein, Kaminfeuer und dem Norwegerpulli, den sie noch immer trug. Schnell zog sie sich den Pulli über den Kopf und hielt ihn Lars hin. “Danke nochmal, der ist wirklich super.” Lars nahm ihn ihr aus der Hand und legte ihn hinter sich. “Also meine Eltern,” sagte Bobby mit einem gespielt ernsten Ton, “die lernten sich auf einem Wettbewerb kennen. In den achtziger Jahren. Es ging um den schönsten Lockenkopf Westberlins.” “So etwas gab es damals? Haben sie gewonnen?”, fragte Lars. “Nein, meine Mutter belegte den vierzehnten und mein Vater den neunten Platz. Doch wenn mein Vater die Geschichte erzählt, dann endet sie jedes Mal mit dem kitschigen Satz: Deine Mutter gewann an diesem Abend mein Herz. Und ich hätte keinen besseren Preis erhalten können als das ihrige”, ahmte Bobby kichernd die Stimme ihres Vaters nach. “Ja, das ist wohl ziemlich kitschig. Und schön”, stimmte Lars ihr mit belegter Stimme zu. Dabei griff er vorsichtig an ihren Hals, nach einer Locken und spielte mit dem weichen Haar. Bobby hielt den Atem an und war wie erstarrt. Eine unglaubliche Spannung hing zwischen ihnen. “Gib mir mal dein Handy”, forderte er sie auf. Ohne nachzufragen, entsperrte Bobby ihr Telefon und reichte es ihm. Nachdem er länger auf dem Display herumtippte, ertönte aus dem Lautsprecher neue Musik. Auffordernd hielt er ihr seine Hand hin. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte Bobby ihre in seine. Schon standen sie voreinander. Lars legte ihre freie Hand auf seine Schulter und seine fand ihren Platz auf ihrem Schulterblatt. Die andere umschloss weiterhin die ihrige. Langsam begann er sie zum Takt der sanften Klänge zu führen. Simple Tanzschritte, ein hin und her wiegen, dann Drehungen mit- und umeinander herum. Leise sagte er:” Du musst mir schon ins Gesicht schauen, statt auf unsere Füße. Vertrau mir, das macht es leichter.” Nervös schaute sie auf, direkt in seine faszinierenden, blauen Augen. Jeder Funke an Humor war aus seinem Blick gewichen, stattdessen hielt er sie innig mit seinem Blick gefangen. Tatsächlich wurden ihre Bewegungen fließender. Jetzt, als Bobby nicht mehr auf ihre Füße achtete, sondern sich seiner Führung vollends hingab, begannen auch sie zu schweben. Trotz des akkuraten Abstandes zueinander, spürte sie eine intensive Hitze zwischen ihnen wachsen. Sie nahm jede ihrer Berührungspunkte intensiv wahr, während er sie spielerisch durchs Zimmer tanzen ließ. 

Ihr Herzschlag hämmerte ihr in den Ohren und ihre Atemfrequenz erhöhte sich, als sie spürte, wie seine große Hand an ihrem Rücken leicht und langsam ihre Wirbelsäule hinabfuhr und an ihrer Taille liegen blieb. Bedächtig zog Lars sie etwas näher an sich. Sie schloss genüsslich ihre Augen. Wie von selbst legte sich seine Stirn an ihre. Sein Atem streifte über ihre Lippen und sie strich mit ihren Fingern von seiner Schulter hoch über den Hals, bis an seine Wange. Die Bartstoppel kratzten angenehm über ihre empfindlichen Fingerkuppen. Die Spannung zwischen ihnen war zum Greifen und Bobby war sich sicher, jeden Moment vor Sehnsucht nach mehr Berührung zu zerspringen, als es plötzlich an der Eingangstür klopfte. Wie ertappt, stolperten beide nach Luft ringend auseinander. Erst jetzt bemerkte Bobby, dass das Lied längst beendet war und das Feuer im Kamin beinahe erloschen. Der größte Lichtanteil drang vom Flur in das Wohnzimmer. Wieder klopfte es an der Tür. “Da muss ich mal hin, nicht das es den Gästen an etwas fehlt”, murmelte Bobby entschuldigend zu Lars. Sollte das tatsächlich diese Kathleen sein, wäre es das letzte Mal, dass sie sich Gäste ins Haus holte, schwor sich Bobby verärgert. Sie lief zur Tür und sah durch den Spion Herrn Knudsen und Martha mit ungeduldigen Mienen im Dunkeln stehen. “Es sind deine Eltern”, flüsterte Bobby ungläubig Lars zu, der sich an den Türrahmen lehnte und jede ihrer Bewegungen verfolgte. Bei ihren Worten seufzte er auf und schloss für eine Sekunde genervt die Augen. Er kam zu ihr, nahm seine Jacke von der Garderobe, schlüpfte in die Schuhe neben der Eingangstür und zog Bobby aus dem Sichtfeld der Tür. “Ich hab dir meine Nummer ins Handy gespeichert”, hauchte er leise in ihr Ohr. Dann öffnete er die Haustür und trat in die Nacht zu seinen Eltern. Schon fiel die Tür mit einem Klicken wieder ins Schloss. Bobby huschte heran, um zu lauschen. “Wir haben unser Auto in der Einfahrt gesehen und wollten nur wissen, ob alles in Ordnung ist”, hörte sie Martha, die sich vergeblich bemühte, leise zu sprechen. “Als ob”, hörte sie Lars antworten. Dann entfernten sich die Schritte der drei und es wurde still.

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