Mit einer Tasse schwarzen Tee in der Hand, stand Bobby am Fenster ihres Büros und schaute in das trübe Nass. Seit Tagen regnete es. Mal mehr, mal weniger, aber der Himmel war permanent bedeckt. Da Bobby eher der nordische Typ war, wenig fror, lieber nach Dänemark und Schweden reisen würde, als nach Spanien und Italien, störte es sie nicht im geringsten.
Es war nur schade, dass die Blätter der Bäume immer bunter wurden und manche schon ganz braun gefärbt waren. Dieses bunte Spektakel würde sie doch nur allzu gerne einmal im Sonnenlicht bestaunen.
Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und klappte den Abrechnungsordner zu. Dann öffnete sie, zum gefühlt hundertsten Mal, die Vorschau zu der Website zu ihrem Gutshof Bachenbau. Die Vorbesitzer hatten diese in Auftrag gegeben und ein professioneller Fotograf die schönsten Fotos geschossen. Es gab sogar eine Seite über die lange Geschichte des Gutshofs. Schließlich existierte dieser schon über zweihundertvierzig Jahre. Während sich Bobby durch die Galerie klickte, kribbelte es in ihrem Bauch. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass dieses Schlösschen nun wirklich ihr zu Hause war! Schon seit vier Wochen! Wahrscheinlich müsste sie mindestens ein ganzes Jahr hier wohnen um es endlich zu begreifen. Jede Jahreszeit mindestens einmal miterleben und Jonas und ihren Geburtstag hier feiern.
Sie griff nach ihrem Handy auf dem Tisch, stand wieder auf. Vor dem Fenster tigerte sie auf und ab, während es aus dem Handy tutete. “Webdesigne Schläg, was kann ich für Sie tun?”, beantwortete endlich eine Frau den Anruf. “Guten Morgen, hier ist Bobby Bach. Ich hab mich dazu entschieden, die von Ihnen erstellte Website zu aktivieren und meine Pension nun in Betrieb zu nehmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Website auch zukünftig betreuen.” “Danke für Ihr Vertrauen, Frau Bach. Dann gratulieren wir Ihnen zu dieser Entscheidung. Ich sende Ihnen den Vertrag, wie gestern besprochen, zu.”
Schon dreißig Minuten später war alles geregelt. Vor lauter Aufregung wusste Bobby gar nicht wohin mit sich. Nach der ersten Unsicherheit, ob sie wirklich eine Pension leiten könnte, war ihr Kopf nun voller Ideen. Sie hatte sich dazu entschieden, die Pension nur phasenweise zu öffnen. Von Mitte Oktober bis zum achtzehnten Dezember wäre die erste Phase. Denn über Weihnachten würden auf jeden Fall ihre Eltern und drei Geschwister zu Besuch kommen, um gemeinsam feiern zu können. Damit wären sowieso alle vier Pensionzimmen belegt. Theoretisch wäre natürlich noch immer mehr als genügend Platz für jede Menge weiterer Personen. Sonst übernachteten sie auch beieinander in Reisebetten oder auf dem Sofa. Aber Bobby wollte ihre Familie unbedingt in den schönen Gästezimmern nächtigen lassen, um ihnen ein Gefühl von Urlaub zu schenken.
Sie war sich bewusst, dass nur aufgrund einer eröffneten Website, auf der man sich nun bei ihr einbuchen konnte, natürlich nicht sofort und immer alle Zimmer vermietet sein würden. Zwischendurch hatte sie auch überlegt, den Betrieb generell durch Mundpropaganda laufen zu lassen. Doch bei dem Gedanken, dass dann nur noch Angehörige der Dorfbewohner oder Freundinnen Marthas bei ihr nächtigen würden, verwarf Bobby den Gedanken wieder. Wer wusste schon, was für spannende Menschen noch bei ihr unterkommen würden, wenn sich theoretisch die ganze Welt bei ihr einbuchen konnte?
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und Bobby griff nach einer kleinen Tüte Magensäureblocker. Das Zeug schmeckte widerlich, aber half. Die Aufregung wollte gar nicht abfallen, also schickte sie via Handy ihrer Familie und ihren engsten Freunden den Link zur Website mit der Nachricht, dass sie sich nun für eine Eröffnung entschieden hatte. Dann lief sie in Jonas Kinderzimmer, wo dieser gerade mit einem neuen Freund auf dem Boden Auto spielte. “Hey, sorry, dass ich euch kurz störe. Ich wollte nur sagen, dass wir vielleicht schon ganz bald Gäste hier haben werden! Man kann jetzt offiziell bei uns Zimmer buchen.” “Oh cool, Mama! Vielleicht kommen dann auch noch mehr Kinder her?” “Das weiß ich nicht- aber es wird bestimmt aufregend.” Jonas streckte ihr breit grinsend den Daumen hoch und spielte dann weiter. Na gut, was sollte sie auch sonst von einem Fünfjährigen erwarten. Bobby schloss die Tür hinter sich und checkte den Bildschirm ihres Handys, auf dem die ersten Glückwünsche eintrudelten. Dann verfasste sie eine neue Nachricht.
Bobby: Hast du kurz Zeit rüber zu kommen? Ich habe gute Neuigkeiten. Lars antwortete sofort: Gib mir zehn Minuten, bin eh gerade bei dir in der Scheune, Traktorenwartung.
Bobby lief in die große Küche und setzte die nächste Kanne Tee auf. Was für die Gilmore Girls ihr Kaffee war, war für Bobby ihr schwarzer Tee. Am liebsten mochte sie kräftigen Ostfriesentee. Allerdings trank sie diesen im Alltag aus großen Tassen, mit jeweils zwei Kluntje und ohne Sahne. Der Tee zog gerade durch, als ihr Handy klingelte. “Fräulein Bach, ich habe gerade entdeckt, dass Sie nun Ihre Zimmer vermieten! Ich gratuliere Ihnen herzlichst dazu. Ich habe sie natürlich sofort auf unserer Website über Dorf Bachensee verlinkt”, erklang die euphorische Stimme von Herrn Sekretär, dessen Namen Bobby noch immer nicht wusste. “Wie machen Sie das? Die Website kann nicht länger als fünf Minuten online sein!” “So lange unser Bürgermeister auf Kur ist, ist es meine Aufgabe über alles informiert zu sein. Ich wollte Ihnen auch nur eben zu dieser Entscheidung gratulieren. Wir sehen uns.” Schon hatte er wieder aufgelegt. Im selben Moment öffnete sich die Hintertür zur Küche. Ein frischer, nach Herbst duftender Windstoß strich über Bobbys Gesicht.
“Hey, was für ein Wetter! Meine Regenkleidung trocknet nur noch Nachts. Aber dafür wird dein Forst immer ordentlicher. Ich denke, wir sind demnächst durch und alle gefährlichen Äste, die auf dein hübsches Köpfchen fallen könnten, sind dann beseitigt”, sagte Lars, während er die tropfende Regenjacke auszog und in die große Spüle legte. Als Forstwirt wusste er natürlich genau, was zu tun war und hatte auch die entsprechenden Kontakte. Mit zwei Kollegen durchstreifte er seit Anfang der Woche das Gelände, um alle Gefahren zu entfernen.
“Fantastisch! Vor allem, da es jetzt nicht mehr nur um meinen Kopf geht, sondern demnächst auch noch um die Köpfe meiner Gäste!” “Oh wow! Hast du dich nun überwunden und traust dich den Schritt zur Pensionsfrau? Ich gratuliere dir!” Mit drei langen Schritten war er bei ihr und schloss sie in eine herzliche Umarmung. Sofort begann ihr Herz zu rasen. Lars roch einfach zu gut. Er fühlte sich gut an und er… Er war einfach toll! Sie blieben für einen Moment so stehen, die Arme umeinander geschlungen und entspannt. Dann kam Bobby ein Gedanke und sie begann zu lachen. “Hmmm?”, brummte Lars. Sie kicherte: “Was meinst du, wie lange wir noch haben bevor deine Eltern in der Küche erscheinen?” “Bei meinem Glück, weniger als dreißig Sekunden”, seufzte er. Sie lösten die Umarmung und setzten sich mit vollen Tassen dampfenden Tees an einen kleinen Tisch in der Ecke. Dann erzählte Bobby: “Seitdem ich mich dazu entschied, das hier alles zu übernehmen, spielte ich in Gedanken alle möglichen Szenarien durch. Ich könnte hier zum Beispiel Mottopartys veranstalten! Vielleicht feiere ich auch Halloween. Ich würde alles dekorieren, ein Buffet aufstellen und man kommt nur mit Ticket und kostümiert hier rein. Oh! Da fällt mir ein, meine eine Schwester legt Karten! Das würde so gut zu Halloween passen. Zu Ostern könnte ich eine riesige Ostereiersuche starten, mit einem Osterfeuer und Stockbrot zum Abschluss. Oder mal ein Krimidinner über ein langes Wochenende planen! DAS wäre was.”
“Okay, bei dem langen Krimidinner wäre ich sofort dabei! Deine anderen Ideen klingen auch super. Nur ein Tip von mir, schau dir mal den Veranstaltungskalender unseres Ortes an. Damit sich nichts überschneidet, wie zum Beispiel ein großes Osterfeuer. Die Bachenseebewohner feiern selbst nur allzu gerne und ich weiß nicht, wie die Konkurrenz bei ihnen ankommt.” “Ach, das waren jetzt auch erstmal nur ein paar Ideen hinaus posaunt. Aber du hast natürlich Recht. Bei konkreten Ideen werde ich auf die großen Feste achten. Herr Sekretär wird mich sicher gerne beraten.” In der Zukunft schwelgend, zupfte Bobby Gedanken verloren an ihrer Unterlippe. Lars beugte sich über den Tisch und legte ihr sanft seine Hand auf den Arm: “Hey, das wird bestimmt richtig toll. Ich freue mich für dich und bin echt gespannt, was die nächsten Monate hier so passieren wird. Leider muss ich wieder los zum Traktor, damit wir das Holz wegschaffen können.” “Ja, klar. Lass dich nicht aufhalten. War schön dich kurz zu sehen.” Lars machte einen Diener und verabschiedete sich mit einem angedeuteten Handkuss bei Bobby. Daraufhin legte sie sich theatralisch ihre Rückhand an die Stirn und vollführte einen kunstvollen Ohnmachtsanfall über ihre Stuhllehne hinweg. “Was ist denn hier los?”, unterbrach Martha das alberne Lachen der beiden. Lars schob sich seinen Ärmel hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. “Ganze zwölf Minuten”, sagte er, woraufhin Bobby noch mehr lachen musste. Verärgert zog Martha ihre Augenbrauen zusammen und fragte: “12 Minuten was?” “Zwölf Minuten, die wir hier zu dritt hätten verbringen können. Schade, Mama”, antwortete Lars grinsend, zog sich seine Regenkleidung an und verschwand gut gelaunt durch die Küchentür. Sofort nahm Martha ein Geschirrtuch in die Hand und wischte die Tropfen auf dem Boden weg, die von Lars Jacke gefallen waren. Misstrauisch nahm sie dann Bobby ins Visier. Diese zuckte einfach nur mit den Schultern und nahm ihr Handy in die Hand, um die weiteren Kommentare zu der Eröffnung ihrer Pension zu lesen. Natürlich ließ Martha nicht so schnell locker. Sie setzte gerade an und holte geräuschvoll Luft, als es an der Tür klingelte. Blitzschnell sprang Bobby auf: “Ach, das müssen die Eltern von Dingsi sein. Simon! Genau, Simon. Jonas Freund Simon wird abgeholt. Bis später.” Was immer Martha auch hatte sagen wollen- Glück gehabt.
Der restliche Tag verlief entspannt. Als Jonas das Rattern des Traktors hörte, hielt ihn nichts mehr im Haus und er überredete Bobby, Lars und dessen Kollegen zu besuchen, um auch Trecker fahren zu dürfen. Es war nicht so, dass Bobby ihm die Fahrt nicht gönnte. Aber sie war sich nicht ganz sicher, wie sie sich Lars gegenüber verhalten sollte, wenn andere dabei waren. Auf keinen Fall wollte sie, dass Jonas etwas bemerkte. Eigentlich war es auch egal, schließlich lief ja nicht wirklich etwas zwischen ihr und Lars. Wie lange kannten sie sich? Drei Wochen? Bekam Bobby Schnappatmung, wenn sie nur an Lars dachte? Seine intensiven Augen, das süße Grübchen, sein hinreißendes Lächeln? Absolut. Schrieben sie sich permanent Nachrichten und fanden jeden Tag einen Grund sich zu sehen? Ja. Aber das hieß noch lange nichts. Es war halt sowieso alles neu und aufregend für Bobby. Da können die Gefühle schonmal verrückt spielen.
Bei den arbeitenden Männern angekommen, war es dann ganz unkompliziert. Jonas fuhr auf dem Traktor mit und Bobby half den Männern beim Beladen des Anhängers mit dem ganzen Totholz. Sie war sich sicher, am nächsten Tag den Muskelkater des Jahres zu haben. Kein Wunder, dass Lars so durchtrainiert aussah. Doch es herrschte eine lockere Atmosphäre, bei der die Arbeit leichter von der Hand ging, als sie war. Und trotz der kleinen Herzaussetzer, sobald sich ihr Blick mit dem von Lars kreuzte, gab es keine unangenehmen Momente. Zum Abschluss lud Bobby alle noch zu sich zum Tiefkühlpizza Essen ein.
In dem riesigen Ofen der Pensionsküche konnten mehrere Pizzen gleichzeitig backen. Durch Marthas Haushaltsverwaltung war der Kühlschrank bestens bestückt und ein großer Salat mit Schafskäse wurde auch noch gemeinsam geschnippelt. Aus dem Vorratskeller holte Lars ein paar Getränke und Bobby kümmerte sich um Musik und Kerzen für die Atmosphäre. Schon bald saßen alle fünf am großen Holztisch im Speiseraum und unterhielten sich bestens. Als Bobby in die Küche ging, um die nächste Runde Pizza aus dem Ofen zu holen, steckte Herr Sekretär seinen Kopf durch die Hintertür: “Huhu, Fräulein Ba-hach! Ich habe Ihnen zur Eröffnung der Pension eine Flasche Sekt mitgebracht. Und meine Frau, aber die nehme ich wieder mit.” “Super, haben Sie auch Appetit dabei? Dann einfach durch die Tür, dem Trubel nach.” Schon schlüpften Herr Sekretär und seine Frau Pfarrerin zu den anderen durch die Küche. Bobby nahm gerade zwei weitere Teller aus einem Regal, als Martha hinter ihr stand. “Bobby, die Pizza wird ja viel zu braun! Lass mich das mal machen. Wieso hast du denn nicht gesagt, dass du eine Party schmeißt? Dann hätte ich was Anständiges gekocht. Dieses Fastfood kann man seinen Gästen doch nicht vorsetzen. Was meinst du, was du dann für Rezensionen auf deiner Website bekommst? Ich kenne einen, der eröffnete ein Restaurant. Hübsch eingerichtet und viel Geld investiert und so weiter. Aber keine Ahnung vom kochen. Der benutzte einfach Fertigprodukte! Das schmeckt man doch sofort. Innerhalb von vier Monaten war der Bankrott. Und wieso? Na weil das auf seiner Website stand und dann niemand mehr kam. Hat er nach den ersten schlechten Rezensionen einen Kochkurs besucht? Ja. Doch das rettete ihn auch nicht mehr. Wo wohnt der jetzt?- Ach ja, in Berlin mit seiner Mutter. Armer Kerl. Auf jeden Fall habe ich dir zur Eröffnung deiner Website eine Flasche unseres Pflaumenschnapses mitgebracht.” Innerlich stöhnte Bobby während der langen Rede auf. Doch dann schluckte sie jeden weiteren Komentar herunter und sagte stattdessen mit einem leicht gequälten Lächeln auf den Lippen: “Danke!? Soll ich noch deinen Mann anrufen und zu unserer kleinen, privaten Runde einladen? Ist doch doof, wenn wir jetzt alle gemeinsam hier sitzen und er alleine bei euch drüben ist.” “Ach Bobby, der sitzt doch schon längst drüben. Wir sind durch den Haupteingang gekommen.” Natürlich. Während ihrer langen Rede hatte Martha die vier Pizzen aus dem Ofen geholt und auf großen Holzbrettern vorgeschnitten. Die letzten drei aus dem Kühlschrank in den Ofen gepackt und ein Tablett mit vier Tellern und Gläsern, so wie mit einigen Schnapsgläsern bestückt. Der Timer war gestellt und schon lief sie geschäftig mit dem vollen Tablett in den Händen zum Speiseraum. Bobby musste grinsen. Martha war schon besonders. Sie selbst nahm in jede Hand ein Brett mit den Pizzen und folgte Martha zu der gemütlichen Runde nebenan. Vielleicht würde es doch kein ganzes Jahr brauchen, um sich hier in der Uckermark richtig zu Hause zu fühlen.

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